
Leipzig, Montag 9. Oktober 1989: Die Krankenhäuser hätten zusätzliche Blutkonserven erhalten, 8000 bewaffnete SED-Kräfte, Polizei und Kampfgruppen, stünden bereit, um die abendliche Montags-Demonstration und die Oppositionsbewegung niederzuschlagen.- So das Gerücht.
Die meisten glauben es, es passt ins Bild: Die SED hat schießen lassen beim Aufstand 1953, sie lässt schießen an Mauer und Todesstreifen, zuletzt hat sie mehr als 3000 friedliche Demonstranten prügeln und verhaften lassen. Und die Nationale Volksarmee ist seit Tagen in „erhöhter Gefechtsbereitschaft“. Das Tiananmen-Massaker von Chinas Kommunisten vier Monate zuvor mit tausenden Todesopfern ist noch frisch in Erinnerung: Die SED hat es als Wiederherstellung von „Ordnung und Sicherheit“ begrüßt. Das Massaker geschah unmittelbar nach einem Gorbatschow-Besuch. Jetzt an diesem Montag 9. Oktober ist gerade der Gorbatschow-Besuch anlässlich des 40. Jahrestag der DDR vorbei, und damit auch die Aufmerksamkeit der Medien. Ideal zum Durchgreifen. Ein Kampfgruppenkommandeur hat es sogar angedroht, per Leipziger Volkszeitung: Gegen die „gewissenlosen Elemente“ müssten die „Werte und Errungenschaften des Sozialismus“ geschützt werden: „Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“
Um 17 Uhr finden in vier Kirchen die Friedensgebete statt. Die Bürger sind aufgefordert die Innenstadt zu meiden. Zahllose Lastwagen mit Einsatzkräften sind unterwegs. Der Schwanenteich hinter der Oper ist von Betriebskampfgruppen belagert. Die Eskalation scheint unausweichlich, sobald sich die Kirchen leeren. Ein Kirchenbesucher sieht eine Familie vor der Kirche. Er warnt: „Gehen Sie mit den Kindern besser nach Hause. Kann passieren, dass heute geschossen wird.“ Der Vater antwortet: „Wissen wir.“ Und schiebt den Kinderwagen weiter. Die Kirchen sind voll wie nie, darunter auch sehr spezielle Beter: geschickt von der SED. Fünftausend Zivilkräfte hat sie aufgeboten als Unterstützung der bewaffneten Kräfte.
Als die Menschen aus den Kirchen strömen, trauen sie ihren Augen nicht: Waren es bisher höchstens 10 000 Demonstranten, sind es nun 70.000, die sich auf dem Leipziger Innenstadtring Richtung Hauptbahnhof drängen. „Wir sind das Volk!“ rufen sie, und: „Keine Gewalt!“ Immer in der Angst, dass sie jeden Moment losbricht. Die Kommandeure aber sind noch in fieberhafter Beratung: Ihre minuitiös durchgespielten Einsatzpläne gehen von maximal 30 000 Demonstranten aus, aber jetzt mit dieser schieren Masse von 70 000?- Die sich langsam den Polizei- und Kampfgruppeneinheiten nähert. Die bisher so bewährte Auflösung von innen durch Stasi-Greif- und Schlagtrupps hat hier keine Chance, und Gewalt von außen – unübersehbare Folgen, ein Blutbad womöglich. Außerdem: Absolut sicher kann man sich der Einheiten nicht mehr sein, Rekruten der Militärschule Bad Düben hatten den Einsatz in Leipzig verweigert … Um 18.20 Uhr telefoniert man hektisch mit der SED-Spitze in Berlin, Egon Krenz verspricht sich zu beraten und kurzfristig zurückzurufen. Da tönt aus den Lautsprechern in der Innenstadt die Erkennungsmelodie des Stadtrundfunks. Die Demonstranten erwarten die Verkündigung des Ausnahmezustands – Auftakt zur befürchteten chinesischen Lösung. Dann aber die Stimme des Gewandhaus-Kapellmeisters Kurt Masur: er ruft beide Seiten zur Gewaltfreiheit auf, er werde sich mit SED-Verantwortlichen für einen Dialog „mit unserer Regierung“ einsetzen.
Am Hauptbahnhof weicht ein erster Einsatztrupp vor den ankommenden Demonstranten zurück – sie haben noch immer keinen Einsatzbefehl. Minuten später siegt die Revolution: Um 18.35 Uhr am 9.Oktober 1989 verzeichnet ein Stasi-Protokollant: „Vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung/Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung.“ Ungehindert und friedlich strömen die Demonstranten bis zur Stasi-Zentrale auf der anderen Seite der Innenstadt. Als Egon Krenz um 19.15 Uhr endlich zurückruft, ist die Entscheidung schon gefallen.
Von da ab wuchsen die Proteste gegen die SED-Diktatur zu einer Volksbewegung in der gesamten DDR. In Leipzig nahmen bis zu 500 000 Menschen teil, in Ost-Berlin fand am 4. November mit rund 1 Million Teilnehmern die größte nichtstaatlich gelenkte Demonstration der DDR-Geschichte statt. Bis zum glücklichen Ende – Mauerfall und Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit – waren noch viele Hindernisse zu überwinden. Aber der Zug war ins Rollen gekommen – dank der mutigen DDR-Menschenrechtler, zumal der Leipziger, dank herausragender Gestalten wie etwa Kurt Masur, und nicht zuletzt dank eines großen Teils des Volks der DDR.