Genua: amphitheatralische Lage über der azurblauen Riviera, Gewirr hoher Häuser den Berghang hinauf, pompöse Vialen und schäbige Gassen. Und unten am Hafen ein Geruchsmix aus hunderterlei Essbarem, Brackwasser und Fisch.
Hier im obersten Stock war Nietzsches „Dachstuben-Existenz“
Friedrich Nietzsche – der Philosoph mit dem Hammer und Umwerter aller Werte, heute aktueller denn je – verbrachte hier mehrfach das Winterhalbjahr: Im ausgeglichenen Rivieraklima war sein quälendes Kopf- und Augenleiden erträglicher, auf den Bergpfaden konnte er ungestört wandern und denken. Das Buch Morgenröte etwa entstand hier: Kritik der herrschenden Moral und Religion – reines Dynamit für die damalige Zeit. Und hier auch, in der Genua-Zeit, formte sich ein Zentralgedanke für sein späteres verhängnisvisionäres Werk Der Wille zur Macht, basierend auf seinen Studien zum Untergang Roms und Griechenlands: Wird auch Europa dasselbe Verfallsschicksal ereilen, werden auch die Europäer die Kraft des Willens einbüßen und von Stärkeren bezwungen werden? Beklemmend für uns die Frage, wo uns doch für die 2050er-Jahre eine muslimische Mehrheit in Europa vorgerechnet wird …
Gleich wie – auf Nietzsches Spuren bin ich unterwegs. Eine spartanische Dachstuben-Existenz führte er hier, in der obersten Etage eines Mietshauses. Unverändert ragt es heute noch sechs Geschoße hoch empor, in verblasstem Römischrot und Ocker, in einer steilen Fußgängergasse: Salita delle Battistine 8.
Als ich so schaue öffnet sich das Portal und ein lidokleidchenumflattertes Elfenwesen von ganz junger Italienerin kommt heraus. Mir einen Ruck gebend frage ich ob man im Haus wisse, dass mal der berühmte Philosoph Nietzsche drin gewohnt habe.
„Si“, nickt das Mädchen, worauf ich frage, woher man das wisse.
„Jemand von der Hausgemeinschaft hat es erzählt. Es muss mal einen Zeitungsbericht gegeben haben.“
„Weiß man in welcher Wohnung?“
„No“. Die Wohnungen seien auch mehrfach verändert worden, fügt sie an, lächelt, entschwebt die Gasse hinab und wird unten an der Piazza eins mit dem Lichtflimmern.
Im Park gleich gegenüber verbrachte er oft die Abende. „Mit mächtigem
waldartigem Grün (auch im Winter), Wasserfällen, wilden Thieren und
Vögeln und herrlichen Fernblicken auf Meer und Gebirge“, so beschrieb er
ihn der Mutter. Ein bisschen arg euphorisch? Auf einem künstlichen Berg
ist er angelegt, sehe ich beim Hineingehen, mit gewundenen Wegen, die
auf und ab führen, Grotten und, tatsächlich, rauschenden Wasserkaskaden.
Nietzsche hat nicht übertrieben. Selbst der Blick auf Meer und Berge
ist noch da, wenn inzwischen auch fast verstellt durch Hochbauten. Ganz
oben setze ich mich auf eine Bank – wie sich auch Nietzsche hier gesetzt
haben wird, entgegen allem starken Tönen in seinen Büchern oft in
verzweifelter Stimmung, wachsend aus der teuflischen Paarung von
Einsamkeit und Krankheit.
Plötzlich Tuten, Knaller, Geschrei. Ich eile vor an die Brüstung, von
der man in die Gasse hinuntersieht: dichter Konfettiregen, unter dem
Schüler – 4.Klassler, 5.Klassler? – aus einem Schulportal quellen, im
Portal bläst eine Frau, die Arme siegreich hochgereckt, die Tröte,
Schüler tröten zurück, werfen Konfettiknaller, abholende Eltern
fotografieren. Ferienbeginn? Es ist der 10. Juni – wäre arg früh, denn
die vacanze dauern traditionell bis Mitte September …
Die Menge beginnt sich zu verlaufen, fast alle nach oben, an Nietzsches
Haus vorbei Richtung Wohnviertel. An der Ecke verweilt man, erneuter
Trubel: in der Bar wird Eis gekauft und ein paar Mütter gönnen sich
einen caffè. Nahebei ein Miniladen, den ich betrete um Wasser zu kaufen. Ein Zehnjähriger stürmt herein. Ob es noch bombeletti gebe, fragt er atemlos die Frau an der Theke.
„Tutti finiti, amore“ ist die Antwort.
Enttäuschung malt sich in sein Gesicht – aus die schönen Knaller. Ein
neuer Gedanke lässt ihn wieder aufleben, er fragt nach etwas, von dem
ich aber nur barba – Bart – verstehe.
„Ancora una“, nickt die Frau, holt eine schlanke gelbe Dose aus dem
Regal und gibt sie dem Jungen, der anstandslos 5€ dafür hinlegt und
wieder nach draußen rennt.
Als ich nach Wasserkauf und kurzem Gespräch mit der Frau – es ist
wirklich Ferienbeginn – nach draußen trete, werde ich von durcheinander
rennenden und schreienden Jungs fast umgerempelt: sich gegenseitig
Schaum in Haare und Gesicht schmierend und der Junge mit der gelben Dose
– Rasierschaum – mittendrin. Auf den nun von der Bar her die entsetzte
Mutter zustürzt, ihn schimpfend am Arm packt und von der Meute wegzieht.
Ferienbeginn all`italiana …
Tipps:
Genua erreichbar zB über Mailand (Eurowings-Destination) mit Zug von Milano Centrale in ca. 1.5h.
Hotels zB in Genua-Nervi (schöner Vorort am Meer:
Felsküstenpromenade, Baden, Parks, Verbindung zu Genua Zentrum mit Bus
und Zug), z.B. Hotel Bonera: Nobili-Palazzo von 1500, erbaut von Admiral
von Andrea Doria; Vorgeschichte über Grimaldi (heute Fürsten von
Monaco) bis Antike, Hotel-Padrone gibt gern Auskunft;
historisch-authentisch, Abnutzungsspuren inklusive. Alternativ: Hotel
Esperia: modern-komfor-tabel, nahe Stazione Genova Nervi. Beide Hotels
nahe Meer.
Auf den Spuren von „Bella Italia – Auf Grand Tour mit großen Italienreisenden“:
1) Nietzsche: Wohnhaus in Salita delle Battistine 8 nördlich der
Prachtstraße Via Garibaldi (dort Stadtinfo/-plan) am östl. Ende der
Piazza del Portello (rechts neben Funicolare di S. Anna). Nietzsches
Park direkt angrenzend: Villetta di Negro. Weiterer Anstieg am Ende der
Salita d. Battistine links Via Bertani zu Corso Magenta und stiller
Piazza S. Anna und ggfs. weiter mit Rundtour über Nietsches „Bergpfade“ –
heute Wohngebiete. Zurück mit Funicolare S. Anna oder Funicolare Zecca.
2) Theodor Fontane: Vom Zentrum Piazza S. Lorenzo (herrlicher
Dom, polychrom gebändert) die Via S. Lorenzo zum Hafen hinab und rechts
durch die Arkaden (Hafenstadttreiben, Herausforderung Augen/Nase/Magen)
bis zur Darsena (Metro, früher Kriegshafen u. Schauplatz von Schillers
Drama „Verschwörung des Fiesco zu Genua“). Zurück am Ufer: historische
Galeone, Acquario (Mega-Meereszoo und -museum), Porto Antico.
Entlang der Bucht von Rapallo unternahm Nietzsche lange Märsche
Ausflug von Genua: tolle (!) Zugfahrt am Meer über Nervi nach Rapallo (Nietzsche wohnte zeitweise auch hier, s. Erinnerungstafel an Ristorante Da Monique, Lungomare Vit. Veneto 5). Abenteuerlich: Rückfahrt nach Genua mit Bus (Abfahrt vor Bahnhof) über wilde Bergküste, u.a. Bergnest Ruta – auch Nietzsche-Refugium.